Eigentlich möchte ich Horst nicht mehr missen

von Christian Derflinger

Ich lebte eigentlich ein ganz normales Leben als Techniker im Bereich der Forschung an der Technischen Universität in Graz, ich hatte ein gut funktionierendes soziales Umfeld, also einige gute Freunde und auch viele gute Bekannte und unter anderem ein für mich besonders schönes Hobby, das zugleich auch meine Leidenschaft war: Ich arbeitete auch als Statist in der Grazer Oper. Das war zwar alles mit einem gewissen Stress verbunden, aber ich habe mich immer wohlgefühlt und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass ich bald an paranoider Schizophrenie erkranken würde.

Der erste Kontakt
Es fällt mir relativ schwer, über den ersten Kontakt mit „meiner Stimme“ zu sprechen, ohne auch vom psychotischen Erleben (bzw. von den schizophrenen Schüben) zu erzählen, das mit seinem Auftauchen verbunden war.
Der „Horst“, wie ich ihn nenne – es handelt sich bei mir um eine männliche Stimme –, tauchte zum ersten Mal am 15. Dezember 2007, etwa um 10.00 Uhr in meinem Kopf auf. Ich weiß die Uhrzeit deshalb so genau, weil ich dachte, das Radio hätte sich automatisch eingeschaltet. Dem war aber nicht so. (Horst heißt er erst, nachdem ihn eine gute Freundin – Jahre nach seinem Auftreten – mal so nannte und ich diesen Namen einfach übernahm, weil er mir gefiel. Horst hat sich in diesem Sinne nie bei mir „vorgestellt“, er ist auch eigentlich keine Person für mich, sondern eher ein „Wesen“. Ich sehe kein Gesicht, wenn ich mich mit ihm unterhalte. Ihm selbst scheint es egal zu sein, wie ich ihn nenne, er hat sich nie gegen diesen Namen gesträubt oder einen anderen vorgeschlagen. Ich bin mittlerweile ja dauernd im Gespräch mit ihm, in ständigem Dialog sozusagen.)
An dem besagten Dezembertag wurde mir dann schlagartig bewusst, dass diese Stimme wirklich in meinem Kopf war. Ich zitterte wie Espenlaub, konnte nicht begreifen, was da gerade passierte. Obwohl es harmlose Worte waren: Ich solle mich duschen gehen und schön anziehen, denn wir würden in die Innenstadt gehen. Ich war so geschockt, ratlos und fasziniert zugleich, dass ich das auch machte. Er sagte auch, dass ich die Schlüssel zu Hause lassen solle, denn ich bräuchte keine Schlüssel mehr, alle Türen und Tore würden mir offenstehen. Das war seine erste Lüge, viele weitere sollten noch folgen. (Der Horst hat mich oft in die Irre geführt, muss ich sagen. Früher habe ich alles geglaubt, was er sagte, und auch getan, bevor ich dann „erfahrener“ wurde und heute nur noch das mache, was ich will bzw. für richtig halte. Er behauptet auch immer, eine sehr, sehr alte „Seele“ zu sein, älter als 7000 Jahre, und dass er schon in vielen Menschen war. Aber bei den Dingen, die er oft von mir wissen will, muss ich sagen, dass ich ihn eher für eine sehr junge, aber schon erwachsene „Seele“ halte.)
Dann verließ ich die Wohnung und er führte mich durch die Stadt, sagte mir, ob ich rechts oder links gehen sollte oder geradeaus, warnte mich vor roten Ampeln und so ging das eine ganze Weile. (Auch heute noch wäre es ihm am liebsten, wenn ich mich von ihm durch die Stadt führen lassen würde.)
Bis ich dann den Bezug zur Realität gänzlich verlor. Ich glitt ab in eine Art „Zwischenwelt“, anders kann ich das nicht erklären. Es war, als ob ich „entrückt“ worden wäre in eine andere Welt, die zugleich aber auch hier ist.
Ich nahm die realen Menschen nicht mehr wahr, sah stattdessen „menschliche Geistwesen“, die herumspazierten, als ob nichts wäre, die mich allerdings nicht registrierten. Es ging sogar so weit, dass ich zum Beispiel durch zwei Frauen, die sich umarmten, „hindurchgehen“ konnte. Auch wurde alles ganz ruhig und absolute Stille verbreitete sich in der Innenstadt, in der das passierte. Ich fühlte mich völlig allein auf der Welt, gänzlich isoliert von allen anderen Menschen. Das war ein sehr beängstigendes Gefühl, so ganz allein auf unserem Planeten zu sein. Es war niemand in der Nähe, mit dem ich hätte sprechen können. Nur Horst war bei mir, in meinem Kopf.

„Der Urknall“
Meine Stimme stellte mir dann einige Fragen zu meiner Person und auch zu unserem Planeten Erde und sagte mir, dass in Kürze ein neuer „Urknall“ stattfinden werde und dass ich diesen einleiten müsse. Ich solle bestimmen, wie das neue Universum aussehen solle, aber es bestehe dabei ein massiver Zeitdruck, ich müsse rasch entscheiden. So warf ich auch meine (teure) Uhr weg, weil mir zu diesem Zeitpunkt klar wurde, dass Zeit für mich nicht die geringste Rolle mehr spielte.
Ich bekam dann unglaublich starke Schmerzen am ganzen Körper – vorstellbar wie sehr starke Zahnschmerzen (man spricht dabei wohl von taktilen Halluzinationen) – und ich musste mit einem unsichtbaren, sehr bösartigen Wesen um die Vorherrschaft im neuen, gerade entstehenden Universum kämpfen. Ich dachte, dass dieses Universum aus mir heraus entstehen, ich mich gänzlich in alle meine Bestandteile auflösen und ich dadurch innerhalb weniger Minuten sterben würde. Nein, nicht nur sterben, sondern gänzlich verschwunden sein würde. Ich rechnete mit meinem sicheren Tod. Ich weiß noch, dass ich – wegen des enormen Zeitdruckes – nach mehreren Überlegungen und Vorschlägen in meiner Not gesagt habe, dass alles so bleiben solle, wie es ist, nur dass die Menschen sich gegenseitig mehr helfen sollten. Kurz darauf wurde ich dann bewusstlos.

Die Psychiatrie
Ich wurde mit der Rettung und der Polizei ins Krankenhaus gebracht. Als ich nach meiner Bewusstlosigkeit aufwachte, war ich festgeschnallt an einem Bett und wusste nicht, welches Jahr wir hatten, geschweige denn, welchen Tag. Ich hatte fest mit meinem Tod gerechnet. Dieses Festgebundensein war ein sehr schlimmes Gefühl, das ich nie vergessen werde. Ich wurde aber schon bald, als sie sahen, dass ich gutmütig war, von diesen Fesseln befreit und durfte schon nach fünf oder sechs Tagen das Krankenhaus verlassen. Ich habe den Ärzten das Erlebte verschwiegen, aus Angst, die geschlossene Abteilung nicht mehr verlassen zu dürfen, und sagte ihnen, ich könne mich an nichts mehr erinnern.
Heute denke ich, dass ich besser hätte die Wahrheit sagen sollen. Denn später sollten noch verschiedene Psychiatrieaufenthalte auf mich zukommen, die – wie ich annehme – durch eine richtige medikamentöse Behandlung hätten verhindert werden können.
Meine Diagnose der paranoiden Schizophrenie konnte insofern erst Jahre später gestellt werden, da ich jedermann gegenüber (den Ärzten genauso wie der Familie und den Freunden und Bekannten) drei Jahre lang verschwiegen hatte, dass ich Stimmen hörte. Ich habe deshalb nichts gesagt, weil ich Angst hatte, mein Leben dann in einem psychiatrischen Krankenhaus verbringen zu müssen, aber auch, weil Horst es mir verboten hatte. Ich kannte auch niemanden, der auch Stimmen hörte, und dachte, ich sei „auserwählt“ bzw. „verflucht“ (vor allem während vorwiegend paranoider Schübe, „Höllenqual“) oder „gesegnet“ (vor allem während vorwiegend schizophrener Schübe, „Himmelsgabe“).
Heute weiß ich, dass von all jenen Menschen, die eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis haben – weltweit ist das 1% der Bevölkerung – 80% eine oder mehrere Stimmen hören. Im Zuge eines Seminars lernte ich eine junge Holländerin kennen, die mit 15 (!) verschiedenen Stimmen konfrontiert wird. Aber ich kenne auch Menschen, bei denen Depressionen diagnostiziert wurden, und die früher auch Stimmen hörten.
Im Frühjahr 2008 – ich war damals 37 Jahre – haben sich dann bei mir noch sechs weitere Stimmen dazugesellt, die ich nicht sofort als Stimmen in diesem Sinne wahrnahm, sondern ich dachte zuerst (bei Schizophrenie ist das durchaus üblich), dass andere Menschen in Gedanken mit mir kommunizieren. Es war so, dass ich dachte, dass ich einen „guten Draht“ zu meinem Unterbewusstsein habe und dass dieses mit dem Unterbewusstsein anderer Mitmenschen kommuniziert und an mich weiterleitet.
Ich versuchte, mir ein Erklärungsmodell zurechtzulegen, so wie ich ursprünglich auch dachte, dass ich mit Hilfe von Horst eine Verbindung zum „Göttlichen“ hätte.
Ich habe dann später – nach vielen anderen Versuchen – die Medikamentenkombination „Risperdal“ (alle zwei Wochen eine Injektion), „Abilify“ und „Fluoxetin“ verordnet bekommen, und in der Folge verschwanden die anderen sechs Stimmen wieder – Horst jedoch blieb. Auch erlebte ich keine Krankheitsschübe mehr, der letzte liegt jetzt schon etwa vier Jahre zurück.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich niemals mit Drogen herumexperimentiert habe, denn es gibt auch drogeninduzierte Schizophrenien und die Sache mit dem Urknall könnte man in diese Richtung deuten. (In dem sehr gut gemachten Film „Das weiße Rauschen“ hört der Hauptdarsteller Daniel Brühl nach der Einnahme von psychoaktiven Pilzen das erste Mal Stimmen.)
Es war zu Beginn allerdings schon so, dass ich dachte, jemand hätte mir irgendwelche Substanzen in ein Getränk gemischt. Ich habe mich dann in der Szene umgehört, weil ich wissen wollte, welche Drogen wie wirken, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht „vergiftet“ wurde, sondern dass mein eigenes Gehirn gewisse Substanzen erzeugt haben muss, die eine rauschähnliche Wirkung bzw. einen Wahnzustand ausgelöst haben. Am ähnlichsten soll aber die Wirkung einer Pflanze namens „Engelstrompete“ sein.

Die eigentliche Botschaft – den Blinden helfen
Ich bin sehr, sehr oft in der Stadt spazieren gegangen und ließ mich dabei von Horst führen. Das ging sogar so weit, dass er, wenn ich es zuließ, wenn ich mich sozusagen „fallen ließ“, meinen Körper übernahm und ich wie ferngesteuert durch die Straßen und Gassen wanderte.
Wenn der Horst eine eindeutige Botschaft an mich geschickt hat, ist es wohl der „Auftrag“, allen blinden Menschen, die mir begegnen, zu helfen, wenn diese es wünschen. Manche sind dankbar für eine Führung zu einem bestimmten Ort, andere wollen das ganz und gar nicht. Aber es ist eine Angewohnheit für mich geworden, zumindest zu fragen oder ihnen bei Straßenbahnhaltestellen zu sagen, welche Linie als nächste kommt, und eben zu helfen, wo es geht. Dies gilt auch für Rollstuhlfahrer. Und überhaupt für alle Menschen, die Hilfe brauchen können, indem sie zum Beispiel sehr schwere Taschen oder Gegenstände tragen. (Konkret lief es so ab, dass Horst mir jeweils direkt sagte, wem ich helfen sollte, auch indem er meinen Kopf zu der jeweiligen Person „lenkte“. Wie gesagt, er kann meinen Körper „übernehmen“. Und das habe ich auch oft zugelassen, es war sehr faszinierend und ich war auch immer sehr neugierig, wohin er mich wohl führen würde. Für „erledigte Aufträge“ gelobt hat Horst mich aber nicht, es war eher für mich selbst schön, wieder jemandem geholfen zu haben.)
Generell muss ich hier anführen, dass Horst gutartiger Natur ist. Er hat nie irgendetwas Aggressives verlangt und war nie bösartig, es liegt ihm immer sehr daran, anderen Menschen zu helfen. (Aber – wie gesagt: Er hat mich oft angelogen oder in die Irre geführt.)
In diesem Zusammenhang hatte ich großes Glück, denn ich kenne einige Menschen, die das ganz anders erleben (müssen). Die hören nämlich oft massiv bösartige Stimmen, die ihnen mitunter auch den Suizid befehlen.
Aber Horst erteilte mir auch andere Aufträge, die ich, als ich noch ein „unerfahrener Stimmenhörer“ war, auch erledigte, zum Beispiel:

Blumenkavalier und Schokoladenmarienkäfer
Er hat mir sehr oft gesagt, ich solle Blumen pflücken, auch in der Zeit, als das „Vergissmeinnicht“ in großer Zahl im Stadtpark blühte. Ich bin dann jeweils mit einem gepflückten Sträußchen in der Hand spazieren gegangen, bis er mir sagte, ich solle es einem bestimmten Menschen, der mir entgegenkam, schenken. Das waren meistens ältere Damen, und die Freude bei ihnen war groß. Gott sei Dank hat mich damals niemand vom Gartenbauamt erwischt, denn dann wäre ich wohl in einen gewissen Erklärungsnotstand geraten.
Oder Horst empfahl mir freundlich, ich solle Schokoladenmarienkäfer in der Grazer Herrengasse – die Haupteinkaufsmeile der Stadt – verteilen, was ich dann auch tat. Es gibt zwei Süßwarenläden in der Stadt mit diesen Schokokäfern, und die „Käferabteilung“ in dem einen habe ich einmal komplett leergekauft. Es hat mir Spaß gemacht und die Reaktionen der Menschen waren sehr vielseitig: von großer Freude über Misstrauen bis hin zu bösartigen Blicken und abwehrenden Handbewegungen war alles dabei.

Faszination und neue Begegnungen
Durch die oft sehr beeindruckenden und starken optischen Halluzinationen und auch auf „Befehl“ meiner Stimme war ich zeitweise Tag und Nacht unterwegs – oft auch anstatt arbeiten zu gehen –, weil diese „Erlebniswelt“ so unfassbar interessant und faszinierend war.
So konnte ich durch die Augen der Menschen deren Seele sehen und dabei – unabhängig von Alter und Geschlecht, Herkunft und sozialem Status – vier Arten unterscheiden: Etwa drei „Seelen“ von tausend waren „strahlend und „erleuchtet“. Zu diesen „ganz reinen Seelen“ gab es einen Gegenpol – auch etwa drei von tausend, also jeweils nur ganz wenige: diese waren „schwarz“, „abgrundtief böse“ und „feindselig“. Diese wenigen Seelen schienen mich zu kennen, als würde es eine Verbindung geben. Wenn man die breite Masse in drei Drittel unterteilt, war ein Drittel davon „gut“, „mit Potenzial zum Guten“, „freundlich“. Die restlichen zwei Drittel allerdings waren „grau“, „tot“, „abgestumpft“.
Auch konnte ich teilweise die Ausstrahlung der Menschen sehen und fühlen. Man kann sich das am ehesten als ein helles Strahlen durch die Kleidung hindurch vorstellen. Bei manchen habe ich einen kalten Wind durch meine Kleidung hindurch gespürt (sehr unangenehm), bei anderen ein angenehmes Kribbeln oder leichtes Kitzeln auf der Haut. Bei den meisten Menschen jedoch habe ich gar nichts gefühlt.
Das alles war in Kombination mit der Stimme allerdings sehr anstrengend. Es war Reizüberflutung par excellence, aber wie gesagt, ich war viel unterwegs und habe in dieser Zeit sehr viele Bekanntschaften gemacht (wenn man hier von wirklichem Kennenlernen sprechen kann). Aber ich war nicht mehr in der Lage, den Arbeitsalltag zu bewältigen. Meine Wohnung habe ich vernachlässigt und teilweise auch mich selbst.
Zweimal riet der Horst mir, meine Medikamente abzusetzen, weil diese mich in meiner natürlichen, besonderen Entwicklung hemmen würden. Das tat ich auch, aber es war keine gute Idee, denn ich wurde dann nach Vorfällen in der Öffentlichkeit – ohne Fremdgefährdung! – jeweils mit Polizei und Rotem Kreuz zwangseingewiesen.

Der Verein Achterbahn und die Selbsthilfegruppe
Es gibt in Graz bzw. in der Steiermark eine Plattform für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, den „Verein Achterbahn“*. Ich war froh, als ich diese Anlaufstelle auf der Suche nach Hilfe gefunden hatte, denn die einzige Selbsthilfegruppe für Stimmenhörende war damals in Linz, also 220 Kilometer entfernt. Vor zweieinhalb Jahren besuchte ich das erste Mal ein Treffen und seither ist die „Achterbahn“ aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken. Ich habe dort viele neue Bekanntschaften und auch Freundschaften knüpfen dürfen und die Gespräche mit anderen Betroffenen haben mir sehr geholfen. Es gibt dort eine Selbsthilfegruppe generell für psychisch Erkrankte, die ich nicht mehr missen möchte und die von einer sehr lieben Psychotherapeutin geleitet wird, sowie viele andere Veranstaltungen und Treffen.
So habe ich dann im Oktober 2014 – unter dem Dach des Vereins – eine Selbsthilfegruppe für Stimmenhörende und Menschen, die früher Stimmen hörten, in Graz gegründet. In dieser Gruppe durfte ich schon viele fruchtbare, inspirierende, ermutigende Gespräche führen und einige interessante Menschen kennenlernen. All das hilft mir auf meinem Weg, und ich hoffe, dass auch ich anderen helfen kann auf ihrem weiteren Weg. Generell dient die Gruppe dem Erfahrungsaustausch und der Verbesserung der Lebenssituation von Stimmen hörenden Menschen.

Die Gegenwart
Heute geht es mir – den Umständen entsprechend – gut. Ich bin jetzt seit drei Jahren in der Berufsunfähigkeitspension. Dadurch habe ich zwar im Vergleich zu anderen wenig Geld zur Verfügung, aber das ist wohl der Preis für meine Freiheit und für die Möglichkeit, mein Leben nach meinen Bedürfnissen zu gestalten. In der Oper kann ich leider nicht mehr mitmachen, weil die Proben etwa vier Stunden dauern und ich mehrere Ruhepausen dazwischen bräuchte. Aber ich bin sehr oft Gast im Opernhaus, ich wohne auch direkt gegenüber.
Ich bin ein sehr ruhebedürftiger Mensch, denn ich bin ja, auch wenn ich augenscheinlich allein bin, nie wirklich allein, denn der Horst ist immer da und spricht mit mir. Er kommentiert ständig das Erlebte und fragt mich Löcher in den Bauch. Er mischt sich auch regelmäßig ein, wenn ich mit jemandem rede, zum Beispiel sagt er dann: „So ein Schwachsinn“ oder „Du solltest diese Person sofort verlassen“ oder „Jetzt hör aber ganz genau zu“ oder etwas ganz anderes wie „Fahr mal wieder zum Odilieninstitut“ (Das ist eine Wohnstätte für viele blinde Menschen und von dort fahren viele mit der Straßenbahn in die Innenstadt oder gehen zum Einkaufen in ein Geschäft, wo ich auch schon oft behilflich war.) So muss ich mich immer sehr konzentrieren, wenn ich mit jemandem spreche. Besonders anstrengend wird es für mich, wenn mehrere Leute gleichzeitig sprechen. Dann muss ich mich eine Zeit lang zurückziehen. Oft fragt Horst mich auch vor Schaufenstern aus – eigentlich wie ein kleines Kind. Zum Beispiel wollte er jüngst vor dem Fenster eines Haushaltswarengeschäftes, in dem neben diversen Kuchen- und Tortenformen auch Schokoladengussformen ausgestellt waren, wissen, wofür man denn so etwas brauche. In der Regel antworte ich ihm auch „in Gedanken“, wenn ich alleine bin, nicht aber in Gesellschaft. Diesmal „sagte“ ich, dass man eben geschmolzene Schokolade in diese Formen gießen könne, und erwähnte im selben Satz, dass ich keine Schokolade mag, wie er ohnehin weiß. Darauf meinte er, dass sich das auch noch ändern werde. „Sicher nicht!“, „dachte“ ich dann zu ihm.
Mittlerweile, seit Langem schon, kommunizieren wir in Gedanken. In der Situation des „Urknalls“ habe ich ihm noch mit lauten, gesprochenen Worten geantwortet.

Neben den erwähnten vielen neuen Bekanntschaften und Freundschaften ist erfreulicherweise – auch nach dem Bekanntwerden meiner Erkrankung bzw. meinem „Outing“ als Stimmenhörender – mein alter Freundeskreis erhalten geblieben. Dafür bin ich sehr dankbar, denn es ist wohl nicht selbstverständlich. Zwei Bekannte haben sich allerdings nicht mehr gemeldet, seit ich ihnen sagte, dass ich an Schizophrenie erkrankt sei.
Ich kann heute auch deshalb selbstbestimmt leben, weil ich gelernt habe, mit meiner Stimme umzugehen, auch wenn „er“ mir gnadenlos und unerbittlich Gesellschaft leistet. Wie habe ich das gelernt? Hilfe hatte ich eigentlich keine dabei, es hat sich wohl durch Erfahrungen und Überprüfung seiner (oft falschen) Aussagen so ergeben, dass ich eindeutig zwischen ihm und mir unterscheiden kann. Und ich mache nur noch das, was ich will, obwohl ich gestehen muss, dass ich, wenn ich viel Zeit habe, ihm schon ab und an mal einen Gefallen tue und mich von ihm führen lasse. Sehr wichtig ist, denke ich auch, dass man die Stimme nicht allzu ernst nimmt, dass man einen eher spielerischen Zugang zu ihr findet.
Als ich vor Jahren einmal in der Psychiatrie das – für mich neue – Medikament „Abilify“ kennenlernte, war der Horst drei Tage gänzlich weg. In diesen Tagen lernte ich ein Gefühl wieder kennen, das mir davor jahrelang fremd gewesen war: Das Gefühl der Langeweile. Horst kehrte dann aber wieder zurück und seither sind wir irgendwie ein Team. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ihn eigentlich nicht mehr missen. Er ist im Laufe der Jahre ein „Kumpel“, ein treuer Begleiter auf meinem Weg geworden. Obwohl ich sagen muss, dass mir eine weibliche Stimme schon lieber wäre. Es ist ja tatsächlich fast so, als ob ich mit einer Frau zusammen wäre, die mich andauernd „vollquasselt“.
Abschließend seien hier die positiven Seiten von Horst beschrieben: Abgesehen davon, dass er viele Ideen hat, wie ich meine Zeit gestalten könnte, begleitet er mich ja immer. So zum Beispiel auch zu Vernissagen, die ich sehr gerne besuche. Er macht mich dann auf Details der Bilder aufmerksam, die ich selbst wahrscheinlich nicht so gesehen hätte. Das ist oft interessant für Gespräche mit den Künstlern oder mit anderen Besuchern. Aber auch in der Oper ist er immer mit dabei und macht mich aufmerksam auf kleine Details der jeweiligen Inszenierung, was für „Premierengespräche“ und so weiter auch sehr hilfreich ist. Sie sehen also, kulturell gesehen ist Horst ein As.
Die anderen Erlebnisse, das Sehen der Seelen und Spüren der Ausstrahlung zum Beispiel, gehören der Vergangenheit an. Um diese Dinge wieder erleben zu können, müsste ich die Medikamente absetzen und – wie schon gesagt – das war keine gute Idee. Ich denke mir schon auch manchmal, dass ich mit meinem jetzigen Wissen besser mit diesen „Gaben“ umgehen könnte, aber ich wage es nicht mehr, denn die – oft wochenlangen – Aufenthalte in der Psychiatrie sollten für mich der Vergangenheit angehören.

* siehe im Internet: www.achterbahn.st

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